Piz Cotschen (3026 m) zum Sonnenaufgang

So viel steht fest: den heutigen Bergtag werden wir nie vergessen! Sonnenaufgang auf über dreitausend Metern! Zum dritten Mal in dieser Woche nutzten wir das Angebot der Gäste-Information Val Müstair; für einen bescheidenen Beitrag von Fr. 50 (für Inhaber der Gästekarte) durften wir unter Führung von Chantal Lörtscher wieder einen prächtigen Tag in der Hochgebirgswelt am Passo dello Stelvio erleben. Um zwanzig nach zwei Uhr aus den Federn, Treffunkt um 03:05 Uhr in Sta. Maria Val Müstair, dann die Fahrt über den Umbrailpass hoch zum Stilserjoch. Bereits auf der Fahrt eine tolle Begegnung: ein Fuchs spazierte auf der Passstrasse – mit seiner Beute, einem Mungg, im Maul. Er schaute ohne auszuweichen in die Scheinwerfer, so als wollte er sagen: «passt auf, die Beute gehört mir, und ich gebe sie nicht her!» Start auf dem Passo dello Stelvio um 03:45 Uhr, im Licht unserer Stirnlampen. Der erste, allerdings steile Aufstieg zum Rifugio Garibaldi ist problemlos zu machen. Das massige Steinhaus steht wenige Zentimeter neben der Grenze CH/I, auf italienischem Boden. Danach verläuft die Strecke vorerst über einen Kilometer relativ flach. Am Breitkamm (Cresta Larga) wählten wir die auf CH-Boden (westlich des Kamms) verlaufende Wegspur. Ab P.2844 ist der Aufstieg zur Sella da Piz Cotschen nichts für schwache Nerven: Dunkelheit, steile und hohe Felsstufen, ausgesetzte Abgründe, der Einsatz der Hände ist zwingend, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind Voraussetzung. Auf dem Sella angekommen, wurde das Licht heller, der benachbarte Ortler schon deutlich zu erkennen, auch die Lichter der Stirnlampen der Berggänger, welche von der Julius Payer Hütte loszogen. Bereits jetzt liess sich definitiv sagen: das Wetterglück war auf unserer Seite! Auf der Sella da Piz Cotschen machten wir Pause, in der Erwartung, dass uns die Wartezeit vor dem Gipfelaufstieg vor den dort oben herrschenden Winden verschone; und  immerhin war es ziemlich kühl, um 0°. Die Stirnlampen wurden jetzt nicht mehr benötigt. Um fünf Uhr machten wir uns auf den Weg zum Gipfel – für die einhundert Aufstiegsmeter sollten 20 bis 30 Minuten genügen. Bis unter den Gipfelaufbau war der Aufstieg unschwierig, lediglich die paar Meter zum westlich gelegenen Hauptgipfel verlangten den Einsatz der Hände und etwas Konzentration. Und tatsächlich: um 05:28 standen wir auf dem Piz Cotschen (auch Rötlspitze genannt). Und sofort ging der Blick nach Osten, wo sich das Firmament bereits orangerot einfärbte. Die Sonne sollte um 05:37 Uhr aufgehen, und zwar rechts des spitzen Gipfels Hintere Schwärze/Cime Nere (3624 m.ü.M., Luftlinie 43.3 km, Ötztaler Alpen). Während wir gespannt warteten, braute sich westwärts in einer Entfernung von vielleicht 25 km eine gewaltige Ladung zusammen (siehe Bild). Zu weit weg, um uns zu beeindrucken. Und erstaunlicherweise war es windstill. Im Osten das gewaltige Schauspiel vor unseren Augen, stimmungsvoller kann ein Sonnenaufgang nicht sein. Dieses Licht, das die Wolken durchdringt, die Sonne in minutenschnelle immer höher aufsteigend, im Westen das Berninamassiv und der Piz Palü im ersten Tageslicht – einfach unbeschreiblich! Nach 35 Minuten Gipfelaufenthalt machten wir uns auf den Abstieg. Unterhalb des Gipfelaufbaus zeigte uns Chantal den Zugang zur Gipfelscharte mit dem eindrücklichen Klemmblock, und der Durchsicht zum Sommerskigebiet des Stelvio. Zurück auf der Sella da Piz Cotschen, stiegen wir ziemlich steil durch die Geröllhalde ins Val Costainas ab – wegen des Schattenwurfs der nahen und hohen Grenzberge CH/I halt bald wieder im kühlen Schatten. Erst als das Tal nach NW verlief, hatte uns die Sonne wieder, und augenblicklich war es gefühlte 10 bis 15 Grad wärmer… Das eigenartig blauweiss gefärbte Wasser der Aua da Prasüra ist übrigens Gegenstand eines Forschungsprojekts: seit dem Jahr 2000 findet man im Bachbett weiss eingefärbte Steine. Dieses Phänomen wurde bereits an einigen hoch gelegenen Gebirgsbächen in den Ostalpen beobachtet. Die Farbe stammt von Flocken aus Aluminiumsulfat, die sich auf den Steinen ablagern. Die Bildung der Flocken ist auf die Produktion von Schwefelsäure in Permafrost-Gebieten zurückzuführen. Deshalb besteht die Möglichkeit, dass sich die Wasserqualität der betroffenen Gebirgsbäche in Zukunft aufgrund der Klimaerwärmung verschlechtern wird. Die Untersuchung des Aua da Prasüra im Val Costainas und zusätzliche Laborexperimente sollen helfen, die künftige Entwicklung besser abschätzen zu können. Unterwegs sind uns vier Forscher an der Arbeit begegnet. Pünktlich um neun Uhr trafen wir auf der Alp Prasüra ein: der Tisch zum Älplerfrühstück war bereits hübsch gedeckt. Auf der aussichtsreichen Alp Prasüra werden ca. 55 Milchkühe aus dem Tal gesömmert. Aus der naturbelassenen Alpmilch wird in traditioneller Handarbeit feinster Alpkäse und vorzügliche Alpbutter produziert. Als eine von wenigen Alpen in Graubünden wird hier noch jeder Käse per Handauszug einzeln ausgezogen und in einer traditionellen Holzform gepresst. Somit ist jeder Käse ein Unikat. Käserin Aita und Senn Bernhard zeigten uns bereitwillig ihr traditionelles Handwerk. Am reich gedeckten Tisch liessen wir es uns gut gehen, anderthalb Stunden lang(!). Herzlichen Dank den beiden für die Gastfreundschaft! Mit etwas Wehmut verabschiedeten wir uns von der herrlich gelegenen Alp und derer Tiere (nebst Kühen leben hier auch Schweine, Hühner samt Güggel, Hunde – ein Paradies!) Der etwa 45 Minuten dauernde Abstieg über die Alpstrasse führte uns nordöstlich der schönen (weissblau gefärbten) Wasserfälle vorbei, bis zur Alp Marangun da la Prasüra. Dort verliessen wir die Strasse, um auf einem Pfad weiter abzusteigen – bis zur an der Umbrailpassstrasse stehenden Blockhütte. Unterwegs bekamen wir jede Menge Botanik zu sehen und von Chantal fachkundig erklärt. Bei dieser Gelegenheit «erntete» Doris Samen und Würzelchen von Hauswurz – mal sehen, was zuhause aus ihnen wird… Ab Haltestelle Blockhütte kamen wir in den Genuss einer kurzen Talfahrt nach Sta. Maria hinunter.

Fazit:
Ein Sonnenaufgang auf einem Dreitausender zu erleben, das war eine Premiere. Dir Chantal gebührt unser herzliches Dankeschön für diesen tollen und erinnerungsreichen Tag!

Wetterverhältnisse:
Hochsommerlich schönes Wetter, leichte Bewölkung, gute Fernsicht, Sonnenaufgang mit stimmungsvoller Bewölkung wie man es sich wünscht, Temperatur um 0 bis +10° C, Wind ca. 10 bis 30 km/h aus NNW

Ausrüstung:
Wanderausrüstung, Handschuhe, Stöcke, Stirnlampe, Kartenmaterial Swisstopo, GPS

Parameter:
Tourdatum: 7. Juli 2022
Schwierigkeit: T3-T4
Strecke: 10.8 km, Parkplatz Passo dello Stelvio (2758 m) – Dreisprachenspitze/Cima Garibaldi (2843 m) – Breitkamm P.2844 – Sella da Piz Cotschen (2925 m) – Piz Cotschen/Rötlspitz (3025 m) – Sella da Piz Cotschen – Aua da Prasüra (2305 m) – Alp Prasüra (2210 m) – Marangun da la Prasüra (1997 m) – Blockhaus Passstrasse Umbrail (1870 m) Aufstieg: ca. 360 m
Abstieg: ca. -1240 m
Benötigte Zeit inkl. Pausen: 8 Std. 30 Min.
Benötigte Zeit ohne Pausen: 5 Std. 50 Min.
Tageszeit: 07:35 bis 15:40 Uhr

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