Pizzo Ruscada 2004 m – Überschreitung Ostgrat-Nordgrat

Wie sich im Laufe des Tages herausstellte, hatten wir uns für heute ein rechtes Stück Arbeit vorgenommen. Aber der Reihe nach: die Fahrt in den Süden (über den San Bernardinopass) brachte uns vom (heute noch) trüben Norden in die Sonnenstube. Nach der staufreien Fahrt durch die Magadinoebene und der eleganten Umfahrung Locarnos durch den Tunnel fuhren wir zügig ins untere Maggiatal und bei Ponte Prolla ins Centovalli. In Intragna parkierten wir nahe der Talstation der Funivia Intragna-Pila-Costa., wo wir unsere Rucksäcke schulterten. Mit der Centovallibahn erreichten wir in zehn Minuten Verdasio, von wo zwei Seilbahnen hoch fahren – eine nach Rasa, die andere bis Monte Comino. Die Fahrt für die sechshundert Höhenmeter dauert sechs Minuten. Nach einem kurzen Spaziergang erreichten wir gegen halb fünf nachmittags das wunderbar gelegene Berggasthaus Alla Capanna – gerade zur rechten Zeit für einen Aperitivo. Barbara und Peter, die beiden sympathischen Gastgeber, begrüssten uns herzlich und wiesen uns – bezeichnenderweise – das Zimmer mit dem erinnerungsreichen Namen Gridone zu. Zum erstenmal in diesem Jahr(!) konnten wir ein (überaus leckeres) Abendessen im Garten geniessen – bei fast dreissig Grad und mit Ausblick zum Gridone und zu unserem Gipfelziel von Morgen – dem Pizzo Ruscada.

Der ruhigen Nacht folgte das schmackhafte Frühstück (natürlich wieder im Garten). Kurz vor neun Uhr marschierten wir los, in Richtung Pian Segna. Die dort in einer Waldlichtung stehende Chiesa Madonna della Segna war nach zehn Minuten erreicht. Gleich hinter der Kirche links haltend, begann es anfänglich moderat und wenig später heftig anzusteigen – zum Glück im schattenspendenden Buchenwald. Bald schon wurde das Gelände schluchtartig, mit hohen Tritten, aber gut zu begehen. Ab und zu wurde der Blick frei nach Süden und auch nach Norden (Valle Onsernone). Nach einer Stunde erreichten wir den ersten Gipfel, den Pizzin. Der Ausblick nach W versprach, was jetzt folgte: ein Auf und Ab von jeweils «nur» von weniger als hundert Hm😓. Bald folgte der nächste Gipfel, der Pianasc. Keine Zeit für eine Gipfelrast! Vor uns der steile Abstieg und eine recht schmale Bänderquerung; Trittsicherheit von Vorteil! Mitten im Gebüsch und noch im Abstieg grüsste und ein übergrosser Steinmann, dann folgte eine Senke mit den zwei Hütten (eine davon verfallen) bei Pescia Lunga (was so viel heisst wie «Lungenflügel»). Hier könnte abgestiegen werden nach Lionza und weiter ins Centovalli. Unsere Lungen waren in bester Verfassung, also steil hoch durch den Wald bis ein Kamm erreicht war. Hier stehen die beiden ehemaligen Alphäuser des Rifugio Corte Nuovo – einmalige die Lage, eindrücklich der Idealismus der Sanierer (Patriziat von Borgnone). Da gerade niemand hier wohnt, nutzten wir die Gelegenheit für eine Pause, im Rücken das tief eingeschnittene Valle Onsernone, vor uns das Centovalli, und natürlich die Gridone-Kette (Erinnerungen an unsere 2-Tagestour vom September 2015). Aufbruch zum Gipfelsturm! Erst hoch zum neuen Pozzo, dann den Punkt 1713 nördlich und schattenhalb umgehend, jetzt die Entscheidung bei der kurz vor einer vom Gebüsch vereinnahmten kleinen Ruine. Hier wird sich später unsere Gipfelrunde schliessen. Nach rechts ginge es zum Capellone, einem nördlich des Pizzo Ruscada gelegenen Gipfelchen. Mutig und heute gut drauf, wagten wir wilden Ritt entlang der Kante und durch die hüfthohen Büsche – Wacholder, Heidelbeeren, Alpenrosen. Schwache Trittspuren führten durch hüfthoch verbuschtes Gelände mit steilen und sehr hohen Tritten. Der kürzestmögliche «Weg» zum Gipfel führte über den Ostgrat, manchmal etwas ausgesetzt, aber immer gut zu machen, vorausgesetzt man nahm die Hände aus dem Hosensäcken. Hundert Meter unter dem Pizzo erblickten wir zwei GipfelstürmerInnen – bis wir oben waren, hatten die sich längst aus dem Staub gemacht – sonst hätte es vielleicht einen Gipfeljass gegeben. So erreichten wir nach einer Stunde (ab Rifugio Corte Nuovo) den geräumigen Pizzo Ruscada. Kein Gipfelkreuz, kein Gipfelbuch, aber ein grosser Gipfelsteinmann. Untrügliches Zeichen, es geschafft zu haben. Das waren dreieinhalb harte Stunden. Welch ein gutes Gefühl! Belohnt wurden wir mit einem grandiosen 360°-Panorama: Gridone, Walliser und Berner Hochalpen, Tiefblicke in die beiden Tessiner Täler, im Nordosten die Tessiner Hochalpen, das Pedemonte mit Locarno und Magadinoebene – und das alles bei bester Fernsicht. Auf dem Gipfel genossen wir bei Windstille und angenehmer Temperatur die ausgiebige Rast. Für eine Siesta reichte die Zeit nicht, denn vor uns lag der Rückweg, mit einem Abstieg/Umweg über den nicht sehr ausgeprägten Nordgrat bis zum Capellone. Von dort die nicht sehr steile Querung zum bereits erwähnten Punkt 1713 bei der kleinen Ruine. Ab hier waren es wenige Minuten bis zum Rifugio Corte Nuovo, auf dessen schönen Granitbänken wir nochmals eine Ess- und Trinkpause abhielten. Was jetzt folgte, war uns vom Aufstieg her bekannt – Auf und Ab, einfach in umgekehrter Richtung. An einigen Steilstufen machte sich langsam Müdigkeit bemerkbar. Dennoch passierten wir die Hütten auf dem Lungenflügel (Pescia Lunga) ziemlich achtlos – mit noch immer vollen Lungen😉. Die konnten wir gut gebrauchen, schliesslich zog sich der Rückweg endlos hin. Mehr als einmal sprachen wir uns Trost zu («bald sind wir unten…»). Kurz nach dem letzten dieser steilen Abstiege, bei der Chiesa Madonna della Segna gabs nochmals eine Pause. Dort befindet sich auch die einzige Tankstelle des heutigen Tages – bestes Wasser fliesst aus dem Brunnen. Überhaupt: zweieinhalb Liter Wasser sind das Mindeste, was man mittragen sollte. Wir sind keine frommen Leute, aber der Besuch der kleinen Kirche und eine Spende für eine brennende Kerze war selbstverständlich – zu Ehren der Verstorbenen. Nach neun Stunden unterwegs befreiten wir uns unter der Dusche von den Anstrengungen des Tages – und als Belohnung gab es Peters Weltklasse-Lasagne👌.

Fazit:
Dass wir heute einsam unterwegs waren, wunderte uns wenig – nach dem endlosen Auf und Ab und den vielen Auf- und Abstiegsmetern… So gefällt es uns!

Wetterverhältnisse:
ein Traum von Sommer – endlich, wenig Wind, sehr warm, ca. 15 bis 30° C

Ausrüstung:
Wanderausrüstung, Stöcke, Kartenmaterial Swisstopo, GPS, Wichtig: viel Trinkwasser mitnehmen!

Parameter:
Tour-Datum: 19. Juli 2021
Schwierigkeit: T3+
Strecke: 14.8 km, Monte Comino Alla Capanna (1150 m) – Chiesa Madonna della Segna (1165 m) – Pizzin (1510 m) – Pianasc (1643 m) – Pescia Lunga (1510  m) – Rifugio Corte Nuovo (1634 m) – P.1708 (Verzweigung kurz vor einer kleinen Ruine) – Ostgrat (Trittspuren, unmarkiert) – Pizzo Ruscada (2004 m) – Capellone (1878 m) – P.1708 (Verzweigung Ruine) – Rifugio Corte Nuovo – Pescia Lunga – Pizzi – Pianasc – Chiesa Madonna della Segna – Monte Comino Alla Capanna
Aufstieg: ca. 1240 m
Abstieg: ca. -1230 m
Benötigte Zeit inkl. Pausen: 9 Std.
Benötigte Zeit ohne Pausen: 5 Std. 35 Min.
Tageszeit: 08:40 bis 17:40 Uhr